Grafrath:
- Älteste und sicherste Quelle zu Grafrath, Dießen und Andechs ist das frühmittelalterliche Grab des Grafen Rath (Kurzform von Ratho bzw. Rathard) in der Kirche des nach ihm benannten Ortes Grafrath. Den Namen Razzo/Rasso gab ihm erst Jahrhunderte später der Dießener Chronist Albert.
- Ratho/Rathard entstammte nach der Ältesten Andechser Chronik fränkischem Hochadel. Eine Abstammung vom späteren Geschlecht der Dießen-Andechser ist nicht belegbar.
- In der ersten Hälfte des 9. Jh. wurde er vom Frankenkönig als Verwalter einer Grafschaft im Raum Ammersee - Starnberger See eingesetzt. Eine später behauptete Einsetzung als Graf in der Ostmark ist nicht belegt.
- Innerhalb seiner Grafschaft gründete er auf der damals Wörth genannten Amperinsel ein Benediktinerkloster. Nach seinem Tod – Sterbetag nach dem ältesten Dießener Nekrologium am 19. Juni - bestatteten ihn die Mönche in der Kirche in einem Steinplattengrab, das bis heute den Mittelpunkt der Kirche bildet.
- Die Datierung der Klostergründung durch den Dießener Chronisten Albert auf 954 erweist sich durch viele Widersprüche als unhaltbar. Die Widersprüche lösen sich auf, wenn man annimmt, dass die Datierung auf eine Inschrift beim Grab zurückgeht, auf der als Todesjahr des Stifters nicht DCCCCLIIII (954), sondern DCCCLIIII (854) angegeben war.
- Beim Volk blieb der Graf in Erinnerung durch seine menschenfreundliche Amtsführung, seine Klostergründung und den späteren Eintritt in sein Kloster. Heldentaten auf einem Kreuzzug und Siege über die Ungarn sind erfunden.
- Anfang des 12. Jh. verlegten die Grafen Berthold II. von Andechs und Otto III. von Wolfratshausen das von Graf Rath gegründete Kloster an ihren Stammsitz nach Dießen und ließen sich dies vom Papst bestätigen. Eine Zerstörung des Klosters schon im 10. Jh. durch Herzog Arnulf oder, wie später behauptet wurde, durch ungarische Reitertruppen ist Erfindung.
- Den Fortbestand der Kirche mit dem Grab Graf Raths sicherten die Grafen, indem sie der Grabkirche zum Erhalt des Gebäudes und zur Versorgung durch einen vom Bischof von Augsburg einzusetzenden Priester den Hof in Wörth übergaben. Hof und Kirche als einzige Gebäude in Wörth gehörten bis zur Säkularisation zusammen wie Leib und Seele.
- Grafrath mit einem vorangestellten Sankt erscheint schon im 14. Jh. als Name seiner Grabkirche und als Ortsname.
Grafrath und Dießen:
- Anfang des 11. Jh. erbaute ein Graf Razo (Raßo) von Dießen an dem später St. Georgen genannten Ort eine der Jungfrau Maria geweihte Kirche und wurde in ihr bestattet.
- Um die gleiche Zeit erbaute seine Schwägerin Gräfin Kunigund (Kuniza), Witwe des Grafen Friedrich von Haching, in Dießen eine Kapelle zu Ehren des Erzmärtyrers Stephan, in der sie 1020 bestattet wurde.
- Anfang des 12. Jh. verlegten die Grafen Berthold II. und Otto III. das Benediktinerkloster Wörth an ihren Stammsitz nach Dießen und wählten dafür zunächst den Platz bei der Kapelle des Grafen Razo. Die Verlegung geschah mit Zustimmung des Bischofs von Augsburg, der bei dieser Gelegenheit die von St. Georgen im Schwarzwald ausgehenden Klosterreform durchsetzen wollte. Die Kapelle wurde zur Kirche erweitert und dem Patron des Reformklosters St. Georg geweiht.
- Da das Kloster die Übernahme der Reform verweigerte, setzte der Bischof bei den Grafen durch, dass sie das Kloster nochmals verlegten, jetzt unter Umwandlung in ein Chorherrenstift an die von Gräfin Kunigund (Kuniza) erbaute Kirche St. Stephan.
- Die Vertreter des ersten Klosters in Grafrath widersetzten sich weiter der Verlegung und Umwandlung in ein Chorherrenstift. Deshalb wurde die Sache dem Papst zur Entscheidung vorgelegt. Papst Innozenz II. entzog 1132 dem Kloster in Grafrath alle Rechte und übertrug sie auf das neue Chorherrenstift in Dießen.
- Nach der Papstentscheidung brach die schriftliche Überlieferung zu den Klöstern an den vorhergehenden Standorten Grafrath und St. Georgen ab, nur die Kirchen und die Stiftergräber in den Kirchen blieben erhalten.
- Im 14. Jh. versuchte der Chorherr Albert eine Gründungsgeschichte des Chorherrenstifts in Dießen zu rekonstruieren. Dabei trennte er die Gründung Graf Raths in Wörth von der Geschichte des Chorherrenstifts und erfand statt dessen eine historisch nicht belegbare Gründung eines ersten Klosters in Dießen im Jahr 850 (sic) zu Ehren des heiligen Georg durch einen angeblichen Priester Rathard.
Grafrath und Andechs:
- Graf Rath war Amtsvorgänger der späteren Grafen von Andechs. Ein genealogischer Zusammenhang ist nicht belegbar.
- Eine Flüchtung der Reliquien nach Andechs schon im 10. Jh. ist Erfindung. Als die Grafen Berthold II. und Otto III. das von Graf Rath gegründete Kloster nach Dießen verlegten, wurden auch die Reliquien weggebracht. Zuerst holte sie Graf Otto an seinen Sitz nach Wolfratshausen. Nach dem Untergang der Wolfratshauser Grafen kamen sie nach Andechs.
- Mit den Reliquien hatten die Grafen zu deren Betreuung auch fünf Mönche von Grafrath auf ihre Sitze geholt. Drei von ihnen erhielten bei der Nikolauskapelle in Andechs ihr Grab.
- Vor der drohenden Zerstörung von Andechs in der ersten Hälfte des 13. Jh. wurden die Reliquien vergraben. Als etwa fünfzig Jahre danach Konrad von Hornstein nach Andechs kam, um sich dort niederzulassen, entdeckte er bei der zerstörten Nikolauskapelle die Grabstätte der Mönche von Grafrath und ein Kästchen mit Schriften über die Reliquien von Grafrath.
- Gut hundert Jahre später (1388) kamen auch die vergrabenen Reliquien wieder zum Vorschein, unter ihnen die Reliquien, die Graf Rath für sein Kloster in Wörth gesammelt hatte.
- Beim Neubau der Kirche in Andechs kam die Grabstätte der Mönche von Grafrath unter den Neubau der heutigen Kirche zu liegen. Die Verbindung mit Grafrath blieb aber ein wesentlicher Bestandteil der Andechser Tradition. Erst in neuerer Zeit wurde die enge Verbindung auf Grund undifferenzierter Auswertung der schriftlichen Quellen und unter Missachtung der nichtschriftlichen Quellen in Grafrath in Frage gestellt.
Zu guter Letzt:
Im Ortsnamen von Grafrath ist neben dem frühmittelalterlichen Grab und den sterblichen Überresten in der Kirche – ein in seiner Art einmaliger Fall – eine bedeutende Gestalt aus der bayerischen Frühzeit bis heute präsent.
(Meßmer, Ernst: Graf Rath – Nachruf auf einen Mann, dem seine Identität genommen wurde, Thalhofen 2020)